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Pixel-Pop fürs Hirn bei Radiohead in Berlin

Von Werner Herpell, dpa

Berlin (dpa) - Die Erwartungen waren riesig, und sie wurden erfüllt: Radiohead, die vor rund 25 Jahren in der britischen Uni-Stadt Oxford gegründete Intellektuellen-Band, bot gut 15 000 Fans aus halb Europa in Berlin das erhoffte Mega-Konzerterlebnis.

Selten wurde hochkomplexe Rock- und Popmusik mit Einflüssen aus Jazz, Elektronik und Avantgarde vor einem Riesenpublikum so virtuos zelebriert wie an diesem kühlen Samstagabend. Am Ende blieb aber auch der Eindruck, dass ein Radiohead-Auftritt eher Kopfsache als Herzensangelegenheit ist.

Im Sommer hatten Radiohead ihre beiden Deutschland-Konzerte auf der Berliner Wuhlheide-Freilichtbühne wegen eines tödlichen Unfalls in Toronto abgesagen müssen - eine sehr menschliche, verständliche Trauergeste. Umso mehr waren die Nachholtermine an gleicher Stelle herbeigesehnt worden. Und die zum Sextett aufgestockte Band legte gleich ambitioniert los - mit "Lotus Flower" und "Bloom", zwei kompliziert verschachtelten, an Dubstep-Rhythmen ausgerichteten Songs des großartigen neuen Albums "The King Of Limbs". Damit war klargestellt, dass dies kein Konzert zum Mitsingen und Mitklatschen werden sollte.

Radiohead verstanden sich allerdings auch nie als Hit- und Hymnen-Lieferanten. Ihre weltweite Popularität beruht auf Alben wie dem in den 90er Jahren bahnbrechenden "OK Computer" oder noch experimentelleren Werken wie "Kid A" und "Amnesiac". Zuletzt hatten sich Sänger Thom Yorke und seine Mitstreiter mit Internet-Veröffentlichungen von der Musikindustrie emanzipiert und waren damit angesichts der Branchenkrise zu Vorbildern für viele andere Popmusiker geworden. An die Spitze der Charts gelangten Radiohead dennoch immer wieder.

Dass hier unabhängige, kluge Köpfe am Werk sind, merkte man auch dem Berliner Konzert an, das über zwei Stundne ging. Viele ruhige Lieder aus dem großen Radiohead-Fundus waren zu hören, etwa die Piano-Ballade "The Daily Mail", der berauschend schöne "Pyramid Song" oder "Give Up The Ghost" in einer Acapella-Version. Das präzise Doppel-Schlagzeugspiel von Phil Selway und dem neuen Drummer Clive Deamer war ein Genuss - wie auch die so formvollendeten wie uneitlen Gitarren-Riffs des längst zum gefragten Soundtrack-Komponisten aufgestiegenen Jonny Greenwood und seines Kollegen Ed O'Brien.

Über all den zerhackten Grooves, schwebenden Melodiepartikeln und lässig eingestreuten Instrumental-Kabinettstückchen thronte Thom Yorkes faszinierende, polarisierende Chorknabenstimme. Auch der Live-Gesang wird bei Radiohead oft verfremdet und lässt das gelegentliche Wimmern und Greinen des Frontmannes noch fremdartiger klingen. Dass der Pop-Intellektuelle Yorke im Herzen ein Entertainer ist, bewies er mit einigen Derwisch-Tanzeinlagen am Bühnenrand und mehreren sehr britisch-freundlichen Kontaktaufnahmen zum Publikum.

Die Massen hatten allerdings ohnehin genug zu tun mit dem Angebot auf gleich 18 Videoschirmen, die das komplette Bühnen-Geschehen und zugleich ein knallbunt-psychedelisches Pixel-Geflimmer abbildeten. Wohl nur eine Artrock-Band wie Radiohead kann anspruchsvolle Popmusik und kunstvolle Videoinstallationen so perfekt miteinander verknüpfen. Die Reaktion des teilweise weit angereisten Publikums klang denn auch erst am Schluss dieses Konzert-Abenteuers wirklich euphorisch - vorher wurde mehr gestaunt als gejubelt. Fan-Herz oder Fan-Hirn: Radiohead haben sich entschieden.