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Die Welt kompakt
01.10.12
Das Geschwurbel von Radiohead

Wenn einer das Ende der Welt vertonen dürfte, dann die britische BandVon Frédéric Schwilden

Titus mag die Band ja sehr, sagt jedenfalls die Mutter auf dem Weg zwischen Wuhlheide und S-Bahn-Station, die neben ihm steht. "Pablo Honey" legt er sich manchmal sogar selbst auf. Das würde widerlegen, dass Radiohead ausschließlich verkopfte Insektensammler anzieht. Titus ist sechs. Mit sechs kann man noch nicht verkopft sein.

Weil vor einem Konzert der Band in Toronto die Bühne einstürzte und ein Mensch dabei sein Leben verlor, wurde die Tour verschoben. So stehen Radiohead nicht Anfang Juli, sondern Ende September an zwei Abenden auf der Bühne der Wuhlheide. Es ist schon dunkel, richtig finster, als Radiohead unter einem Höllenlärm die Bühne betreten. Sie spielen "Lotus Flower" von ihrem letzten Album "The King Of Limbs". Da hört man also ein Schlagzeug, ein Klatschen, irgendein Tingeln, den Bass, Ufo-Geräusche, Wasserplätschern, noch ein Schlagzeug, irgendwas Reibendes aus Metall, und was ganz Sonderbares, dass aber mehr so ein Bauchgefühl als ein Ton ist. Dem Ohr fällt es schwer, alle Geräusche zu einem Song zu arrangieren, deswegen bedarf es eigentlich langer Vorbereitung, die Musik der Briten hören zu können. Und wenn sich dann alle Einzelteile tonal verzahnen, Yorke singt mit ganz hoher Kopfstimme "So now I'll set you free/ I'll set you free", dann sieht man die vielen Menschen in der Wuhlheide gar nicht mehr. Man vergisst, dass man eigentlich nur eine kleine Ameise auf dem großen Hügel ist. Radiohead sind über die Jahre immer weiter weg gekommen vom Sound einer Rockband.
Titus fragt sich bestimmt, was die da unten machen. Auf seiner Lieblingsplatte "Pablo Honey" bestand die Band noch aus Gitarrenschrammlern. Den Song "Creep" - neben The Verves "The Drugs Don't Work", vielleicht der einzige Song auf der Welt, bei dem jeder Mensch weinen und knutschen gleichzeitig will - spielen sie gar nicht mehr. "Anyone Can Play Guitar" fehlt genauso. Eigentlich spielen Radiohead wirklich alles außer die erste Platte eben. Wie der Sänger da mit dem Rücken zum Publikum sitzt, einfach sein Lied spielt und die Ameisen in der Dunkelheit zuschauen, wär das schon schwer in Ordnung, wenn's das gewesen wär. Licht aus. Tür zu. Goodbye.
Wenn einer das Ende der Welt vertonen dürfte, es müssten Radiohead sein. Aber sie spielen ja noch. Und weil sie noch spielen, kann es gar nicht vorbei sein. "Paranoid Android". Spätestens jetzt sollten alle merken, dass Radiohead wirklich gut sind. Gerne sieht man über die, nennen wir es Klangforschungen zuvor, hinweg. Aber an einem Stück wie "Paranoid Android" kann ein jeder die Großartigkeit menschenmöglicher Musik bewundern.
Am Ende tanzt Yorke wie ein Besessener zu "Idioteque", diesem elektronischen Epilepsieanfall, der alle Neuronen entlädt. Nach einem solchen Konzert ist es schön, kein Gröhlen zu hören, auf dem Weg zurück in die Wirklichkeit.