Quelle: Radiohead in Köln: Sie klingen immer noch nach Zukunft | Kultur - Kölner Stadt-Anzeiger

RADIOHEAD IN KÖLN
Sie klingen immer noch nach Zukunft

In großer Umlaufbahn: Radiohead geben ihr erstes Kölner Konzert seit 15 Jahren - und entschädigen in der Lanxess-Arena für die lange Wartezeit Von Christian Bos

Dizzy Gillespie wurde mal gefragt, wie seiner Meinung nach Musik in ferner Zukunft klänge. Nach einem Mann, der mitten im Urwald auf eine Trommel schlägt, antwortete der Jazz-Gigant. „There There“ von Radiohead klingt so, nach ferner Zukunft. Die beiden Gitarristen der Band, Ed O’Brien und Jonny Greenwood haben in der Kölner Lanxess-Arena ihre Instrumente beiseite gelegt und schlagen mit je zwei Stöcken pro Hand auf Standtrommeln ein, hinter ihnen treiben gleich noch zwei Schlagwerker den halb tribalistischen, halb maschinengleich fortschreitenden Beat vor sich her.

Sänger Thom Yorke windet darum eine scheinbar simple Folkmelodie auf der Rhythmusgitarre, das muss der Dschungel sein. Doch nach ein paar Minuten greift Greenwood wieder zur Gitarre und ein stotternder Riff hebt den Song auf ein höheres Energieniveau. Am Ende schlagen die futuristischen Stammestrommeln noch ein paar Takte allein, Jubel aus elftausend Kehlen droht sie zu übertönen, auf halber Strecke haben Radiohead den Höhepunkt erklommen, „There There“ muss der beste Song der Welt sein, so fremd und vertraut klingt er, und dazu muss man noch nicht einmal wissen, dass die Briten den von Gillespie vorausgesagten Beat bei der Kölner Krautrock-Band Can entliehen haben, worauf sie selbst immer wieder gerne hinweisen.

Aber nicht an diesem Montagabend. Yorke belässt es bei einigen Dankeschöns, schimpft kurz auf die „Daily Mail“ und Tony Blair und hält ab und an beide Daumen nach oben, als wäre er Paul McCartney. Vor allem aber lässt er sein Falsett erzittern, bedient zahlreiche Instrumente und tanzt in seiner eigentümlichen Rumpelstilzchenart über die Bühne. Die ist spektakulär erleuchtet, quadratische LED-Schirme hängen in immer neuen Formationen vom Bühnenhimmel, zeigen verfremdete Livebilder der einzelnen Bandmitglieder in Aktion, oder einfach einen grün glimmenden Matrix-Wald. Dass muss der digitale Dschungel sein. Oder sie glühen bis zum schmerzhaften Weiß, dann schweigt die nervöse Rhythmusmaschine und Yorkes Stimme schraubt sich in elegische Gefilde. Beim „Pyramid Song“, „Weird Fishes/ Arpeggi“ und natürlich am Ende von „Paranoid Android“, der großen Entfremdungshymne für alle, die in den 90ern zum Erwachsenwerden gedrängt wurden, und die prompt großflächig mitgesummt wird. Ein seltener Moment, denn Nostalgie gönnen Radiohead weder ihren Fans noch sich selbst, der Großteil der 24 Songs stammt vom aktuellen Album „The King of Limbs“ und vom 2008er Meisterwerk „In Rainbows“.

Unruhe = Überlebensstrategie

Stattdessen erlebt man eine Band, die immer neue Wege hin und weg zum Song ausprobiert, die sich in immer größere Umlaufbahnen um das ferne Zentrum Rockmusik wagt – „Idioteque“, zum Beispiel, die letzte, immer wieder kickende Zugabe, besteht fast nur aus einer geloopten Sequenz aus Greenwoods großem Analog-Synthesizer. Oder „Identikit“, ein neuer Song, nach einem italienischen Experimentalfilm benannt: Zuerst schlängeln sich nur Yorkes und O’Briens Stimmen zur kargen Schlagzeugbegleitung umeinander, es will kein Lied draus werden. Doch dann explodiert es in allen Farben des Regenbogens, kurz darauf singen wir schon mit und unsere Idee davon, woraus und wie man ein Lied basteln kann, hat sich um eine astronomische Einheit verschoben.

Für Radiohead mag ihre Unruhe auch eine Überlebensstrategie sein. Wie sonst sollte man über drei Dekaden gemeinsam öffentlich miteinander musizieren, ohne zynisch oder drogensüchtig zu werden? Auch fürs Kölner Publikum macht sich die kreative Rastlosigkeit bezahlt, in einer Performance die mit Uhrwerks-Präzision abläuft, sich dabei aber von Unabwägbarkeit zu Verrücktheit zu Verblüffung bewegt, wie eine Klang gewordene Rube-Goldberg-Maschine.

Kurz vor Schluss stimmt Yorke – Greenwood muss noch ein Effektpedal für „Everything In Its Right Place“ einstöpseln – R.E.M’s „The One I Love“ an. Ein Stück aus Radioheads Jugend, damals als vergiftete Liebeserklärung gemeint, heute reinen Herzens zurückgewidmet. Und wir lieben Radiohead. Sie klingen immer noch nach Zukunft.